Nathan von Gaza, ein Vorläufer der psychoanalytischen Methode?
1. Einleitung
Nathan von Gaza (1644-1680), eigentlich Abraham Nathan b. Elischa Chajim Aschkenasi, ist ein seinerzeit berühmter und angesehener Rabbiner und Kabbalist (Idel, Kabbalah, S.259), der in einer häretischen jüdischen Bewegung des 17. Jahrhunderts, im Sabbatianismus, als Prophet des "Messias" Sabbatai Zwi eine zentrale Rolle spielt. Der Sabbatianismus wird u.a. durch einen apokalyptischen Antinomismus charakterisiert, d.h. die bewusste Gesetzesverletzung wird nicht nur gerechtfertigt, sondern als Weg zur Überwindung der Misstände der jetzigen conditio humana und zur Heraufbeschwörung des neuen messianischen Zeitalters betrachtet. Auch wenn der Höhepunkt dieser Bewegung sich nur über wenige Jahre erstreckt, dürften seine Theorien auf manche kulturellen Strömungen einen wichtigen Einfluss ausgeübt haben, z.B. zeigen die Vorstellung der Krankheit und die "Therapie" Ähnlichkeiten mit der psychoanalytischen Methode.
2. Die religiösen Wurzeln der Psychoanalyse
Verschiedene Autoren haben einen möglichen Einfluss der jüdischen Kultur und Mystik auf die Entstehung der Psychoanalyse in Erwägung gezogen. An erster Stelle soll Gershom Scholem erwähnt werden, der wichtige Forscher der jüdischen Mystik, der auch an der interdisziplinären Diskussion mit der Psychologie sehr interessiert war, wie seine Teilnahme an den von Carl Gustav Jung inspirierten Eranos-Tagungen in Ascona zeigt.
Carl Gustav Jung kann man auf der Startseite der Hompage der Neo-Sabbatianer sehen. Sebottendorff, der Gründer der Thule-Gesellschaft aus der die NSDAP hervorgegangen ist , will gemäß seinem Buch "Bevor Hitler kam", von einem jüdischen Rabbi und Kabbalisten der Sekte der Dönmeh / Sabbatianer ausgebildet worden sein. (vgl. Sabbateans plotted the Armenian Holocaust!) Carl Gustav Jung: »Das arische Unbewusste hat ein höheres Potential als das jüdische; das ist der Vorteil und der Nachteil einer dem Barbarischen noch nicht völlig entfremdeten Jugendlichkeit«. C.G.Jung und die Eugenik der NaZi(onsten).
Wichtige Hinweise und Anregungen finden wir in allen seinen Werken. In diesem Zusammenhang sind weiter die Arbeiten von Marthe Robert, Peter Gay und Yosef Hayim Yerushalmi zu nennen. Eine besondere Erwähnung verdient der Zürcher Analytiker Siegmund Hurwitz, der in mehreren Werken die tiefenpsychologischen Aspekte chassidischer Mystik betont hat.
So tritt seiner Auffassung nach z.B. der Begriff des Unbewussten bereits in dieser Mystik auf. In einem seiner Werke hat Hurwitz sich sogar besonders auf die Figur von Sabbatai Zwi konzentriert. David Bakan stellt in einer bemerkenswerten Arbeit einen direkten Zusammenhang fest zwischen gewissen Strömungen der jüdischen Mystik, unter anderen der sabbatianischen Bewegung, und der Entstehung der Psychoanalyse. Interessante Anregungen bieten auch das Vorwort von F. Pasche für die französischeÜbersetzung des Werkes von Bakan und die Artikel von A. Barocka und Harriet Lutzky.
3. Sabbatai Zwi
Sabbatai Zwi, Sohn eines wohlhabenden Händlers von Smyrna, heute Izmir, eine türkische Hafenstadt an der anatolischen Küste, wird 1626 geboren. Er zeichnet sich bald durch seine intellektuelle Begabung aus und trägt schon als Jugendlicher, vermutlich als 18-jähriger, den Titel Chacham, die sefardische Ehrenbezeichnung für einen Rabbi (Vgl. Scholem, Sabbatai Zwi, S. 137). Sabbatai setzt seine Studien vor allem über die Bücher der Sohar mit einer Gruppe von Schülern fort. Er beschäftigt sich mit dem Problem von "En-Sof" und dessen Beziehung zu den Sefiroth, und sucht eine Antwort auf die Frage, wer der wahre Gott sei (Vgl. Scholem, Sabbatai Zwi, S. 167). Dabei handelt es sich um ein wichtiges kabbalistisches Thema. Es wird zwischen einem ersten Emanator unterschieden, "genannt En-Sof, eingehüllt in das Mysterium seiner verborgenen Tiefen, und der Emanation, das heisst der Sphäre der zehn Sefiroth und göttlichen Eigenschaften" (Scholem, Sabbatai Zwi, S. 145). Dabei wird also unterschieden zwischen dem lebendigen Gott, d.h. dem Gott, der sich manifestiert, und Gott in seiner Verborgenheit, wie er für sich existiert, über den wir nichts wissen können (vgl. Scholem, Mystische Gestalt, S. 53).
4. Sabbatais psychische Schwankungen
Schon als Jugendlicher fällt Sabbatai durch psychische Besonderheiten auf mit Phasen, wo er überaktiv und voll Energie ist. In solchen Phasen hat er eine sehr positive Ausstrahlung auf die Mitmenschen, gelegentlich aber vollzieht er auch merkwürdige Handlungen, die von zeitgenössischen Berichterstattern als "fremdartige", "befremdliche", "seltsame" Taten beschrieben werden. 1648 hört Sabbatai eine Stimme, die ihm seine Mission verkündet: "Du bist der Retter Israels ... ich schwöre bei meiner rechten Hand und der Stärke meines Armes, dass du der wahre Erlöser bist und keiner ausser dir die Erlösung bringen wird" (Scholem, Zwi S. 163).
Gelegentlich treten auch Phasen der Inaktivität und des Rückzuges auf, die als "Tage der Finsternis oder der Trübsal" beschrieben werden, in welchen Sabbatai nicht selten über seine befremdlichen Handlungen betrübt ist und sich auch von dämonischen Mächten bedrängt fühlt. Nach dem Erlebnis vom 1648, als die Stimme ihn als Messias bezeichnet, soll Sabbatai mehrmals den unaussprechlichen Namen Gottes gesagt haben, eine nur unter ausserordentlichen Umständen erlaubte Tat, die aber in seinem Fall zu einer harten Strafe hätte führen müssen. Lange Zeit reagieren die Rabbiner auf sein Verhalten nicht, vermutlich weil man ihn für geisteskrank hält, schliesslich wird er aber von Smyrna verbannt. Es beginnt eine Zeit des Wanderns. Auch an den neuen Orten leidet Sabbatai weiter unter den psychischen Schwankungen und begeht weiter seltsame Handlungen. In Konstantinopel zum Beispiel kauft Sabbatai einmal "einen grossen Fisch, kleidete ihn wie einen Säugling und legte ihn in eine Wiege". Sabbatai betrachtet diese Handlung als Symbol für das aufkommende messianische Zeitalter unter dem Sternzeichen der Fische. Für diese Handlung ist Sabbata mit vierzig Hieben bestraft worden (Vgl.Scholem, Sabbatai Zwi, S. 183). liegen und ging ebenfalls nach Gaza, um einen Tikkun und Ruhe für seine Seele zu finden'" (Scholem, Jüdische Mystik, S. 323). Offenbar befindet sich Sabbatai in dieser Zeit weder in einer manischen noch in einer schwer depressiven Phase. Er ist aber um seine eigenartigen seelischen Zustände besorgt und sucht fremde Hilfe, um endlich durch einen Tikkun den inneren Frieden zu finden.
5. Der Tikkun und die Erlösung durch Reintegration
Theorie und Praxis des Tikkuns gehören zur kabbalistischen Lehre Isaak Lurias. Nach dieser Lehre ist die materielle Welt durch einen Emanationsprozess entstanden, dabei konnte das göttliche Licht nur von den drei oberen der zehn Sefiroth aufgefangen werden, während die unteren sieben "zu schwach [waren], das Licht zu halten, sie barsten und fielen auseinander" (Scholem, Die jüdische Mystik, S. 292). Bei diesem Ereignis, "Bruch der Gefässe" genannt, blieben Lichtfunken an den Scherben (Kelipa) haften, so dass sich heilige Elemente mit den unheiligen und unreinen vermischten. In diesem Zustand kann sich das göttliche Licht nicht völlig manifestieren. Durch Adams Sünde wird das Schicksal des göttlichen Lichtes von den "Funken" der menschlichen Seelen geteilt, "die meisten Seelenwurzel und Seelenfunken fielen aus Adam heraus ins Reich der Kelipa" (Scholem, Sabbati Zwi, S. 60). Durch die Hilfe eines Gelehrten, wie z.B. Nathan von Gaza, kann der Mensch die Wurzeln seines Übels erkennen und den Weg der erlösenden Restitution, des Tikkuns, lernen. Ein Weg, der in jeder Generation nur wenigen Menschen vorbehalten ist und nicht selten erst durch mehrere Transmigrationen vollendet werden kann: "Aufgabe des Menschen ist die Vervollkommnung seines individuellen Funkens auf allen Stufen. Daher muss der Tikkun mühsam und stückweise im Verlauf von vielen Leben und Seelenwanderungen verwirklicht werden" (Scholem, Sabbatai Zwi, S. 62).
6. Die Entstehung der sabbatianischen Bewegung
In Gaza findet aber etwas Unerwartetes statt: nach langen Gesprächen hält Nathan Sabbatai nicht für krank. Er anerkennt Sabbatai sogar als Messias und überzeugt ihn, sich zum Messias zu erklären. Nathan wird zum Prophet des neuen Messias und seine Autorität spielt eine wichtige Rolle in der Verbreitung der Bewegung: Gemeinden in Asien und in ganz Europa anerkennen Sabbatai als Messias und folgen seinen revolutionären Vorschriften, wie z.B. die Veränderung der liturgischen Zeiten und die Aufhebung von rituellen Verboten. Es ist hier nicht möglich, die Geschichte dieser Bewegung weiter zu verfolgen. Es sei nur erwähnt, dass Sabbatai in Konstantinopel vom Sultan verhaftet wird und sich während der Gefangenschaft zum Islam bekehrt. Dieser Schritt soll seine Anhänger nur für kurze Zeit erschüttert haben, bald wird auch die Apostasie im Licht seiner messianischen Sendung gedeutet, als Zeichen der Aufhebung der bisher gültigen Gesetze und des Aufbruches eines messianischen Zeitalters.
7. Die Beziehung Sabbatai-Nathan
Das Treffen dieser zwei Persönlichkeiten hat schwere Konsequenzen: Sabbatai schwankt zwischen Zuständen der euphorischen Begeisterung mit einem hohen Sendungsbewusstsein und Phasen der Depression, wo er sich noch dämonischen Mächten ausgeliefert fühlt. Manischdepressive Symptome und religiöse Vorstellungen sind derart miteinander verflochten, dass der Psychiater mit der Anwendung psychopathologischer Begriffe äusserst zurückhaltend sein muss. Die religiöse Komponente gibt den manisch-depressiven Schwankungen eine besondere Bedeutung: "Nathan wird wohl Sabbatais Lebensgeschichte gehört haben, von seiner Krankheit, und den Leiden, von seinen Träumen und Verfolgungen, und er wird alle diese Einzelheiten in das Bild der Gottheit und des Kosmos eingefügt haben" (Scholem, Sabbatai Zwi, S. 250-251).
Auch die offensichtlich psychischen Störungen bekommen eine kosmische Dimension, der Kampf Sabbatais gegen seine Depression wird zum Krieg gegen dämonische Mächte; der Krieg "wird im wesentlichen auf den ‚inneren', spirituellen Ebenen des Kosmos ausgefochten, obgleich er schliesslich auch auf den materiellen Ebenen auftreten kann. Der Messias kämpft in den Tiefen seiner Seele, um die Funken des Lichtes aus der Umklammerung der Kelipa herauszuziehen. Daher also das Mysterium seines Leidens" (Scholem, Sabbatai Zwi, S. 259). Die Zustände der Exaltation nach dem Trübsal werden als Zeichen des Sieges über die dämonischen Mächte angesehen.
8. Das Böse und der Antinomismus
Nathan ist bestrebt, die Übertretungen des Gesetzes zu rechtfertigen und theologisch zu begründen. Er entwickelt die bereits von anderen Kabbalisten formulierte Interpretation des Gegensatzes zwischen dem Baum der Erkenntnis und dem Baum des Lebens weiter. "Die Tora manifestiert sich unter zwei Aspekten: vom ‚Baum des Lebens' und vom ‚Baum der Erkenntnis von Gut und Böse'. Der zweite Aspekt ist charakteristisch für die Zeit des Exils. Wie der Baum der Erkenntnis Gut und Böse enthält, so bringt die von ihm herkommende Tora Erlaubnis und Verbot, das Reine und Unreine. Mit anderen Worten:
Sie ist das Gesetz der Bibel und der rabbinischen Tradition. Doch in der Zeit der Erlösung wird sich die Tora unter dem Aspekt des Baumes des Lebens behaupten, und dann werden alle bisherigen Unterscheidungen vergehen. Mit der positiven Manifestation der Tora als Baum des Lebens wird daher die Abschaffung all jener Gesetze und Bestimmungen einhergehen, deren Autorität und Gültigkeit sich unabdingbar über die gegenwärtige Ära des Exils erstreckt" (Scholem, Sabbatai Zwi, S. 33). In der Zeit des Exils ist deshalb die Tora "getrennt", aber "in der eschatologischen Zukunft würde die Herrschaft des Baumes des Lebens den ganzen Kosmos umfassen, und die Gesetze und Regeln, die vom Baum der Erkenntnis, der der Baum des Todes ist, herrühren, würden vergehen" (Scholem, Sabbatai Zwi, S. 888).
Gemäss Nathan: "Nicht immer genügt die Anziehungskraft der Heiligen, um durch fromme Tat und Gebet die Funken aus ihrem Gefängnis, aus dem Bereich der sogenannten Kelipoth oder ‚Schalen', zu erlösen. Es genügt nicht, dass der Heilige oder Fromme ausserhalb des Bösen steht und die gefangenen Funken zu sich heraufzieht. Es gibt Teile des grossen Tikkun-Prozesses, und zwar die letzten und schwierigsten, in denen, um den Prozess wirklich zu beenden, der Messias in das Reich des Bösen und der Unreinheit herabsteigen muss, um die Funken von innen her aus ihrem Gefängnis herauszuholen oder, um es mit einem anderen, viel gebrauchten Bilde zu sagen, um die ‚Schalen des Bösen von innen her zum Platzen zu bringen'" (Scholem, Jüdische Mystik, S. 341).
Nach diesen Theorien wird die Bedeutung des Bösen relativiert und die Gültigkeit der Gesetze auf die Zeit des Exils beschränkt, darüber hinaus wirkt sich die Achtung der Gesetze kontraproduktiv aus, sie verhindert nämlich gerade diejenige Handlungen, die das neue Zeitalter einleiten. Das Gesetz würde die Zweiteilung der Tora aufrechterhalten und die Wiederherstellung der Einheit, auch im Menschen, verhindern. "Im Menschen sind der gute und der böse Trieb als Möglichkeiten der Wirkung nicht anders angelegt, als die Qualitäten der Liebe und der Strenge in Gott selber. [...] Denn das Böse ist, wie wir hier nun lernen, klarerweise nichts anderes als das, was die Dinge aus ihrer Einheit isoliert" (Scholem, Mystische Gestalt, S. 63). "Die Trennung und Isolierung dessen, was geeint sein sollte, ist die Natur des Bösen" (Scholem, Mystische Gestalt, S.64).
Solche Theorien zeigen weitreichende Konsequenzen und stellen traditionelle Vorstellungen auf den Kopf: das Böse ist nicht böse an sich, sondern gewisse Elemente haben erst nach ihrer durch die göttliche Strenge erzwungenen Absonderung und Trennung einen bösen Anstrich erhalten. Schliesslich verdient es die göttliche Strenge, als böse bezeichnet zu werden. "Die richtende Gewalt in Gott ist aber der eigentliche Ursprung des Bösen als einer metaphysischen Realität, die aus der Hypertrophie dieser Gewalt sich herschreibt" (Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, S. 143).
Die Wiederherstellung der ursprünglichen Einheit verlangt, dass man die Einseitigkeit und die Verselbständigung der "Gerechtigkeit" relativiert mit der Erkenntnis, dass auch als "böse" hingestellte Elemente unbedingt zur Ganzheit gehören. Darin besteht auch die Sendung des Messias: "Seine letzte messianische Aufgabe besteht offenkundig nicht allein im Sieg über die Macht des Bösen und in dessen Vernichtung, sondern auch in deren Heraufziehen zur Sphäre der Heiligkeit, das heisst im Tikkun der Kelipa. Die ‚wunderbaren und ehrfurchtgebietenden' Dinge, die der Messias nach der Apokalypse tun musste und die er in Wirklichkeit schon getan hatte, waren jene ‚befremdlichen Handlungen', durch welche die Übertretungen geheiligt und die Kelipa an ihrer Wurzel verwandelt und heilig gemacht wurde" (Scholem, Sabbatai Zwi, S. 259260).
9. Ähnlichkeiten zwischen kabbalistischen Motiven und Psychoanalyse
Es ist nicht schwer, ein ähnliches Muster in der psychoanalytischen Theorie zu erkennen: die ursprüngliche Einheit der Psyche wird von den übermässigen Ansprüchen und von der Strenge des Über-Ichs zerstört, die willkürlich richtende Instanz verdrängt psychische Inhalte als böse, entzweit den Menschen und führt den Konflikt zwischen Über-Ich und Unbewusste ein. Ziel der Therapie ist die Wiederherstellung der Einheit, die Integration des verdrängten "Bösen" (vgl. de Urtubey, Freud et le diable; Pavesi, Freud und der Teufel, ders., Le concept du démoniaque, ders. Von der Trinität zur Quaternität). Guter und böser Trieb, Eros und Thanatos, bilden ein Paar gleichwertiger Gegensätze. Wie es in der Analyse eigentlich darum geht, das Über-Ich zu verändern, so hat auch Nathan von Gaza in der Behandlung von Sabbatai den absoluten Wert der geltenden Normen relativiert und versucht, die Legitimität der "befremdlichen Handlungen" und anderer Übertretungen der Gesetze zu rechtfertigen, um sämtliche Schuldgefühle abzubauen. Psychische Symptome werden nicht pathologisiert, sondern als göttliche Offenbarung gedeutet.
Freud selber hat religiöse Motive metapsychologisch interpretiert: "Ich glaube in der Tat, dass ein grosses Stück der mythologischen Weltauffassung, die weit bis in die modernen Religionen hinein reicht, nichts anderes ist als in die Aussenwelt projizierte Psychologie. Die dunkle Erkenntnis (sozusagen endopsychische Wahrnehmung) psychischer Faktoren und Verhältnisse des Unbewussten spiegelt sich -es ist schwer, es anders zu sagen, die Analogie mit der Paranoia muss hier zu Hilfe genommen werden -in der Konstruktion einer übersinnlichen Realität, welche von der Wissenschaft in die Psychologie des Unbewussten zurückgewandelt werden soll. Man könnte sich getrauen, die Mythen vom Paradies und Sündenfall, von Gott, vom Guten und Bösen, von der Unsterblichkeit u.dgl. in solcher Weise aufzulösen, die Metaphysik in Metapsychologie umzusetzen" (S. Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, S. 287-288). Man könnte sogar die Hypothese wagen, dass tiefenpsychologische Ansätze der Kabbala (vgl. Scholem, Sabbatai Zwi, S. 81) von der Psychoanalyse voll entwickelt worden sind; erst der naturwissenschaftliche Ansatz der Psychoanalyse hat es ermöglicht, metaphysische Vorstellungen als Projektionen psychischer Prozesse und Inhalte zu deuten.
Zu Recht kann man Nathan von Gaza als einen Vorläufer der psychoanalytischen Methode betrachten. Gerade Nathan war derjenige, der Sabbatai, der unter dem Konflikt zwischen seinem Verhalten und dem Gesetz litt, von der Legimität seiner Handlungen überzeugte, und ihn zum wichtigen Schritt veranlasste, in Namen des verborgenen Gottes die Gesetze des lebendigen Gottes aufzuheben, wie vom Spruch gut dargestellt wird: "Gesegnet seist du, o Herr, der du das Verbotene erlaubst" (Scholem, Sabbatai Zwi, S. 2721).
Hurwitz sieht in dieser antinomistischen Handlung den ersten Schritt, der die "Heiligung" und die Integration der Sünde ermöglicht hat, weswegen Sabbatai Zwi "als ein Betrüger und Verführer seines Volkes in die Geschichte Israels eingegangen" ist (Hurwitz, Sabbatai Zwi, S. 263). "Messianität meint -von innen her gesehen -die Ganzheit des Menschen. Zu dieser Ganzheit aber gehört auch die Sünde. Unter diesem Aspekt allein kann die Sünde überhaupt sakramentale Weihe bekommen. Eine berühmte Bibelstelle lautet: ‚Du sollst den Ewigen, deinen Gott lieben, mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deiner ganzen Kraft' (Deut. 6, 5). Der Kommentar Sifrê deutet diese Textstelle dahin, man solle Gott mit dem guten und mit dem bösen Trieb lieben und ihn dienen. Der tiefe Sinn, der dieser Deutung zugrunde liegt, besagt, dass die Ganzheit nur verwirklicht werden kann, wenn neben dem Hellen auch das Dunkle, neben dem Geist auch der Trieb, neben dem Gesetz auch die Sünde bewusst gelebt und verwirklicht wird. Sabbatai Zwi lebte wohl das Dunkle, aber er vermochte nicht, es bewusst zu leben" (Hurwitz, Sabbatai Zwi, S. 263). Es kann möglich sein, dass für den modernen Tiefenpsychologen die "befremdlichen Handlungen" Sabbatais nicht genügend bewusst sind, man muss jedoch festhalten, dass Sabbatai Vorstellungen über die Entstehung der Welt und des Menschen, über den Ursprung des Bösen und über die Erlösung übernommen hat, die der Bibel fremd waren. "Wir wissen aber sicher, dass Sabbatais mystisches Denken sich in eine entschieden gnostische Richtung entwickelte" (Scholem, Sabbatai Zwi, S. 147).
G. Scholem Die Jüdische Mystik, S. 351, "Diese Formel wird von mehreren Autoren benutzt, die sich mit dem Antinomismus der Sabbatianer beschäftigt haben und scheint auf Sabbatai Zwi selbst zurückzugehen" (Ebd. S. 370).
10. Einige Schlussbemerkungen
Freud selber macht zum Wesen der Psychoanalyse widersprüchliche Äusserungen: einerseits erklärt er, die Psychoanalyse "ruht auf der wissenschaftlichen Weltanschauung, mit welcher die religiöse unverträglich bleibt" (Freud-Pfister, Briefe, S. 139), andererseits schreibt er: "Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie" (Freud, Neue Folge, S. 102). Weitere Untersuchungen über den kulturellen Hintergrund Freuds könnten zu einem besseren Verständnis seiner Mythologie und ihrer religiösen Wurzeln beitragen, und Aufschluss über psychoanalytische Vorstellungen vom Menschen, von Krankheit und Heilung, von Sunde und Erlösung geben.
Literatur
David Bakan, Freud and the Jewish Mystical Tradition. Princeton: D. Van Nostrand Company 1958.
Barocka, Sabbatai Zwi -ein falscher jüdischer Messias. Ein kasuistischer Beitrag zur Religionspathologie, Schweiz. Archiv für Neurologie, Neurochirurgie und Psychiatrie Bd. 136 (1985), Heft 3, S. 43-54.
Sigmund Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens, Gesammelte Werke, Bd. 4. Ders., Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Gesammelte Werke, Bd. 15.
Sigmund Freud, Oskar Pfister, Briefe 1909-1939. Frankfurt am Main: S. Fischer 1963.
Peter Gay, "Ein gottloser Jude". Sigmund Freuds Atheismus und die Entwicklung der
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Übers. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1988. Siegmund Hurwitz, Archetypische Motive in der chassidischen Mystik, in Zeitlose Dokumente der Seele, Studien aus dem C. G. Institut Zürich.
Zürich: Rascher 1952, S. 121-212. Ders., Sabbatai Zwi. Zur Psychologie der häretischen
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C.G.Jungs. Zürich: Rascher 1955. Bd. II, S. 239-263. Ders., Psyche und Erlösung. Schriften zur
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Haven and London: Yale University Press 1988. Harriet Lutzky, Reparation and tikkun: a
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F. Pasche, Préface à l'édition française, in D.Bakan, Freud et la tradition mystique juive. Paris: Payot 1964.
Ermanno Pavesi Freud und der Teufel. Der Begriff des Dämonischen bei Sigmund Freud.
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Ders., Le concept du démoniaque chez Sigmund Freud et Carl Gustav Jung. In CREA, Le défi magique. Stanisme et sorcellerie. Presses universitaires de Lyon. 1994. S. 331-340.
Ders., Von der Trinität zur Quaternität. C.G.Jungs Theorie der Integration der Gegensätze in Gott, Factum, (1995) 3/4, S. 22-26.
Marthe Robert, D'Oedipe à Moïse. Freud et la conscience juive. Paris: Calmman-Lévy 1974.
Gerschom Scholem, Sabbatai Zwi. Der mystische Messias. Dt. Übersetzung, Frankfurt am Main: Jüdischer Verlag 1992.
Ders., Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980.
Ders., Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977.
Luisa de Urtubey, Freud et le diable. Paris: Presses Universitaires de France 1983.
Yosef Hayim Yerushalmi, Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum. Dt. Übers. Berlin: Wagenbach 1992.
Ursprung der Psychoanalyse
Freud und die sitra achra (die andere Seite)Der verdrängte Ursprung der Psychoanalyse
"Aber es bleiben genügend andere Dinge, die die Anziehung des Judentums und der Juden unwiderstehlich machen - viele dunkle emotionale Kräfte, um so mächtiger als sie sich so schwer in Worte fassen lassen,und ebenso das klare Bewußtsein unserer inneren Identität, die Vertrautheit, die aus der Heimlichkeit der gleichen seelischen Konstruktion erwächst." Sigmund Freud, Ansprache aus Anlaß seines 70. Geburtstages vor der B'nai B'rith Loge in Wien (1)
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http://nwo-satanismus.blogspot.com/2009/09/freud-und-die-sitra-achra-die-andere.html
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